MS – eine Krise, ein Notfall
Grüezi mitenand
MS ist ein Vorverlust des Lebens vor dem eigentlichen Tod. Man stirbt über Jahrzehnte. Der Körper verfällt langsam oder schnell, vergleichbar dem Prozess im hohen Alter. Oft beginnt jedoch der Verfall «viel zu früh». Man stirbt nicht am Versagen eines geschwächten Organs, während alle anderen Organe eigentlich noch in Ordnung wären. Man stirbt ganzheitlich, indem man sich innerlich über die Zeit mitentwickelt. Langsam genug, um jahrzehntelang mit MS ausgiebig hadern zu können. Zu langsam, wenn man sich eines Tages gar nicht mehr bewegen kann. Man hat fürs Sterben viel Zeit.
Man verliert bisher Selbstverständliches schubweise oder langsam. Die eigene Geschichte entfernt sich von einem, sie wird unbedeutend, sie verblasst. Zu was wäre sie noch von Nutzen? Die Gegenwart zählt, die Zukunft scheint bedenklich.
Im Zeitraum nach der Diagnose, der 20 oder 50 Jahre dauern kann, liegen die lieb gewesenen Teile des «Selbst» im Sterben: die Verbindung zu früheren Freunden, die Unabhängigkeit, das Reisen, das unbeschränkte Bewegen, das übermütige Tollen, das Arbeiten, das Sich-fit-Fühlen, die persönliche Attraktivität, die Wertschätzung seiner Lebensleistung – man ist jetzt nur noch «krank» und kostet. Entwürdigend empfände man den Umgang mit seinen Organen und Gliedern, der Blase, dem Darm, den sich verkrampfenden oder zuckenden Muskeln, den gefühllos werdenden Gliedern, den Lähmungen, könnte einem jemand dabei beobachten.
Partnerinnen wünschen sich die Sexualität, wie sie früher war oder wie sie sein sollte, unter «normalen» Voraussetzungen. Man würde das auch gern so praktizieren. Es geht nicht. Mit aller Gewalt und allen «Mitteln» ginge es vielleicht.
Fortsetzung im Buch